Druckansicht Wednesday 15. December 2010

"Eine wichtige Etappe auf dem Weg zum neuen Miteinander in Europa"

Kardinal Schönborn in "Furche"-Interview: "Das gemeinsame Grundmuster Mitteleuropas wird wiederentdeckt" - "Europa ist größer als die erweiterte Europäische Union" - "Die Seele Europas ist an Orten wie Mariazell präsent" (Kathpress, 26.5.04)

Die "Wallfahrt der Völker" war eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einem neuen Miteinander in Europa, stellte Kardinal Christoph Schönborn in einem Interview in der neuesten Ausgabe der "Furche" fest. Schönborn zitierte den Ausspruch seines Vorvorgängers Kardinal Franz König: "Der Weg nach Europa führt über Mitteleuropa". Trotz aller negativen Entwicklungen des 19./20. Jahrhunderts hätten die Länder des mitteleuropäischen Raums sehr viele religiöse, kulturelle, psychologische Gemeinsamkeiten bewahrt, etwas wie "ein gemeinsames Grundmuster". Manches davon sei in Vergessenheit geraten, aber es lasse sich wieder entdecken. Dieser Prozess sei im Gang. Noch gebe es aber manche Mauern in den Köpfen und Herzen, Reste alter Vorurteile. Für die Christen gehe es darum,
"mit der Gnade Gottes diese Mauern zu überspringen", um einander endlich "auf gleicher Augenhöhe" zu begegnen.

Eine der starken politischen Botschaften der "Wallfahrt der Völker" sei, dass Europa größer ist als die erweiterte Europäische Union, betonte Kardinal Schönborn: "Wenn wir die europäische Wiedervereinigung ernst nehmen, können die Länder des einstigen Jugoslawien, Rumänien oder Bulgarien nicht vergessen werden". Kroatien sei zweifellos auf dem Weg in die Union schon weiter vorangekommen als Bosnien-Hercegovina. Aber für beide Länder gelte, dass sie unverzichtbare Bestandteile Europas sind: "Sie brauchen uns und wir brauchen sie".

"Ausgestreckte Hand" zu den Muslimen

Die "Wallfahrt der Völker" könne auch als eine "ausgestreckte Hand" in Richtung der Muslime verstanden werden, weil in einem der Teilnehmerländer - Bosnien-Hercegovina - der Islam historisch präsent ist. Die "ausgestreckte Hand" solle aber auch in anderer Richtung verstanden werden, unterstrich der Wiener Erzbischof: "Das Ziel, für das sich die Katholiken in Mariazell eingesetzt haben, ist ein gemeinsames Haus Mitteleuropa, das für alle wohnlich und eine Heimat ist, für die Christen unterschiedlicher Konfession, für Juden und Muslime, für Menschen, die nicht an Gott glauben oder auf der Suche sind".

Als weiter wirkende spirituelle Impulse der "Wallfahrt der Völker" bezeichnete Kardinal Schönborn im "Furche"-Interview "das offene Bekenntnis zu Christus, die Suche nach religiösen 'Zeichen', die dem Glauben auch gesellschaftliche Plausibilität verleihen, weil sie sozusagen im Alltag erlebbar sind, die Wiederentdeckung des Sonntags als des 'Schlüsseltags' für die Christen, weil es der Gedenktag der Auferstehung Jesu ist". In den letzten Jahren habe es oft geheißen, dass Europa eine Seele braucht, stellte der Wiener Erzbischof fest. Das habe so geklungen, als müsse man etwas konstruieren: "Aber Europa hat eine Seele, sie ist präsent an den 'Quellorten des Glaubens', wie gerade Mariazell einer ist. Sie ist präsent in den großen Kathedralen des Kontinents, an den Pilgerwegen, in Geschichte und Gegenwart der christlichen Glaubensgemeinschaften". Die Seele sei da, "sie prägt auch heute vielfach das Denken und Fühlen einer großen Mehrheit der Europäer". Aber man müsse das auch zur Sprache bringen. Schönborn: "Viele Jahre sah es ja so aus, als würden sich die Europäer ihrer Seele und ihrer christlichen Wurzeln schämen".

"Ein unübersehbares Zeichen"

Die Tatsache allein, dass der Mitteleuropäische Katholikentag mit der "Wallfahrt der Völker" als Höhepunkt zu Stande gekommen ist, habe auf die öffentliche Meinung in den Teilnehmerländern Eindruck gemacht, betonte der Wiener Erzbischof. Auch dass die Staatspräsidenten mehrerer Teilnehmerländer ganz selbstverständlich nach Mariazell gekommen sind, sei aufmerksam registriert worden. Vor allem sei es aber die Begeisterung der Pilger, die in den Reformländern mit ihrer doppelten Belastung - "die Altlasten des theoretischen Materialismus von einst und der Ansturm des praktischen Materialismus von heute" - Aufsehen macht. Die "Wallfahrt der Völker" sei ein Zeugnis, "das
nicht übersehen werden kann".

Auf die Frage nach seinen persönlichen Eindrücken aus den anderen Teilnehmerländern während des Katholikentags-Jahres verwies Kardinal Schönborn darauf, dass in vielen Reformstaaten "mehr Hoffnung, mehr Optimismus, mehr Lebensfreude, mehr Willen zur aktiven Gestaltung der Zukunft" wahrnehmbar sei als in Österreich, obwohl die materiellen Bedingungen schlechter sind. Die Kirche in diesen Ländern sei nach 1945 durch das Feuer der Verfolgung gegangen. Das habe einerseits große Verluste gebracht, andererseits aber auch eine Reinigung von manchen historischen Schlacken zur Folge gehabt: "Die wiedergewonnene Freiheit hat bei den Katholiken eine spontane Freude an der Kirche
bewirkt, von der wir uns im Westen durchaus eine Scheibe abschneiden können - ohne deswegen alles heilig zu sprechen oder schön zu reden, was in den Reformländern geschieht".

"Freie Kirche in freier Gesellschaft"

Andererseits habe bei den Nachbarn etwa das österreichische Modell der Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat, Kirche und Gesellschaft unter den Bedingungen von Freiheit, Demokratie und Pluralismus großes Interesse ausgelöst. Das Wort von der "freien Kirche in der freien Gesellschaft" habe Anziehungskraft; auch die Tatsache, dass das Verhältnis von Kirche und Staat in Österreich nicht vom Prinzip der feindseligen Trennung, sondern der partnerschaftlichen Zusammenarbeit unter Respektierung der wechselseitigen Unabhängigkeit geprägt ist. Auch das weltkirchliche Engagement der österreichischen Katholiken im Bereich von Mission und Entwicklungszusammenarbeit werde als Vorbild empfunden. Es sei interessant, dass z.B. das Modell der österreichischen Sternsinger-Aktion mittlerweile sowohl in der Slowakei als auch in der Tschechischen Republik ähnliche Initiativen ausgelöst hat.


© Mitteleuropäischer Katholikentag 2004